Charakter der Tonarten & Völker

In meiner  Bibliothek steht noch ein antiquarisches Buch über den Charakter der Tonarten: eine sehr wissenschaftlich daher kommende Analyse aller vorhandenen Tonarten des Dur-Mollsystems des Abendlandes. Dies war im 19. Jahrhundert eine sehr populäre Art der Betrachtungsweise, die auf diese Art eine Fülle von schönen Adjektiven zusammentrug, die dieHypothese untermauerten, daß die Wahl der Tonart durch den Komponisten quasi schon den Charakter des Stückes wesentlich bestimmt.

Als kleine Seitenbemerkung sei mir erlaubt: was damals als wissenschaftlich galt, gilt heute nicht mal mehr als diskutierbar.

Als kleines Gedankenexpermient möchte ich die Gelegenheit nutzen, den Charakter der Tonarten auf den Charakter der aktuellen Pandemiebewältigung zu übertragen.

Als Leser internationaler Zeitungen finde ich es doch sehr faszinierend, wie so ein universelles Problem mit gänzlich unterschiedlichen Mentalitäten angegangen wird.

Es zeigt sich, daß ein und dieselbe Krankheit je nach Kultur ganz unterschiedlich gesehen wird.

Prompt landet man bei einer Charakteristik der Völker, die sich gar nicht so stark entwickelt hat über die letzten hundert Jahre.

Ich erinnere mich noch gut der Schadenfreude in Europa über die anfängliche Ohnmacht der Amerikaner zu Beginn der Pandemie. Vielen mußte ich damals sagen: „Wartet mal ab.“ 

Und siehe da: es hat sich gezeigt, daß die Qualitäten der Amerikaner auch in der Krise sich wieder von der besten Seite gezeigt haben:

Eigeninitiative, Improvisationsgabe, Erfindungsreichtum, Unternehmergeist.

Und ähnlich wie die Japaner nach Pearl Harbour haben sich auch diesmal viele zu früh gefreut. 

Um die etwas provokante Analogie zum 2. Weltkrieg gleich fortzuführen:

Die Deutschen sind immer wunderbar in der Umsetzung eines Plans, den Sie kennen. Da ist man detailverliebt und zeigt einen großen Stolz auf die Unfehlbarkeit des eigenen Systems. Und das geht solange gut, bis nichts dazwischen kommt. Aber wehe, wenn !

Dann funktioniert nichts mehr. Keiner zieht auf eigene Verantwortung etwas Ungeplantes durch. Alle warten auf den Führerbefehl, der nicht kommt. Und dann war leider schon Stalingrad.

Hat man in Deutschland mal ein funktionierendes System, dann ist es quasi unbesiegbar. Das betrifft genauso den Fußball wie den Maschinenbau und die Wirtschaft und Kultur im Allgemeinen. Was leider in dieser Phase der Unbesiegbarkeit leider vollkommen untergeht, ist die individuelle Stimme, der Platz fürs einfache Sein jenseits der unbarmherzigen Forderungen der Maschine Gesellschaft, die ohne Unterlaß auf das Individuum einschlägt.

Dies haben wir in all den Jahren seit der Wiedervereinigung erlebt: 

5 Ländern, die früher mal ein Land waren, hat man die Seele herausoperiert, so daß keine lokale Gastwirtschaft und Jugendklub mehr übrig geblieben ist. Ein gigantisches Reservat für eine überalterte Bevölkerung, die sich höchstens noch auf den Parkplätzen der ALDI-Supermärkte treffen kann. Ein gesamtdeutsches Kulturleben, daß wie besinnungslos die immergleichen Stücke wiederholt in der wahnsinnigen Hoffnung, daß ein verändertes Design des Programmheftes die Hilflosigkeit ob der eigenen Rolle in der Gesellschaft übertünchen kann. Trotz jahrzehntelanger Einsichten, den Verkehr anders zu organisieren, pendeln jedes Jahr mehr und mehr  Menschen immer länger mit dem privaten Auto zu Ihrer Arbeitsstelle, in einem wahren Mobilitätsrausch, der das Leben und Wohnen ausgehöhlt und leer zurücklässt.

Nun erleben wir, wie nach und nach dieses ganze System zusammenbricht und die ganzen offenen Fragen nach Sinn und Wert im Individuum und Gesellschaft aufbrechen läßt. Die Leere, die sich da auftut, wird für viele Menschen erschreckend sein. Eine Erkenntnis, die vielleicht dann kommen wird, ist, daß das geistige Leben in der Bundesrepublik Deutschland schon sehr lange verkümmert ist.

Ausgerechnet die Völker, auf die man bis dato immer etwas leicht herabgeschaut wegen ihrer scheinbaren Langsamkeit und Unorganisiertheit, zeigen sich als die Widerstandsfähigsten. Bei allem politischen Streit, den beispielsweise die Italiener aus Rom gewöhnt sind, zeigt sich in der Krise eine außergewöhnliche Gelassenheit. Ein Volk, daß den Einfall der Germanen und den Niedergang von Imperien so überlebte,  daß die Geschichtsschreiber noch heute darüber streiten müssen, ob und wie das Römische Reich überhaupt untergegangen ist, weiß eine Pandemie in Relation zu anderen Krisen, zu setzen.

Nicht zuletzt die Russen: Denkwürdig ist für mich immer noch der Satz eines russischen Tänzers bei einer Zimmerparty im Theater in St. Petersburg: „Wir Russen fangen keine Kriege an, wir beenden sie.“ Ein zugleich hartes, aber stolzes und herzliches Volk, das Extreme in Geschichte & Klima gewohnt ist. Selbst wenn hier noch mehr Menschen sterben werden, es wird mit einer Mischung aus Fatalismus und stoischer Erkenntnis hingenommen,  daß das Leben nun mal hart ist.

Bei allen Vorurteilen und ungerechtfertigten Ängsten, die in so einer Zeit durch die Welt schwirren, ist es doch erstaunlich wie Menschen über alle Kultur- und Sprachgrenzen hinweg kooperieren können, sei es generell über Nachrichten oder sei es bei so etwas Komplexem wie der Entwicklung eines Impfstoffes.

Eine der größten evolutionären Vorteile unserer Spezies bleibt doch der selbständig vorgenommene Perspektivwechsel.  In der Lage zu sein, durch Beobachten des Verhaltens anderer Menschen oder durch eigenes Nachdenken seine  Position zu ändern und ein Problem aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Vielleicht sogar in dem einen Problem eine Lösung für ein anderes Problem zu entdecken. 

Gerade im kleinen Europa hat man schon seit Jahrhunderten vom Austausch und von der Vielfalt der Lösungsansätze und kulturellen Besonderheiten profitiert. Das war immer die Stärke des Kontinents, der dadurch auch immer ein Kontinent der Ideen war, die auf kleinstem Raum florierten.

Laßt uns alle hoffen, daß uns diese Fähigkeiten nicht verlassen !

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