Als ich mich auf der Landkarte meiner Erinnerung an die Namen der mondänen böhmischen Bäder erinnernd, entscheiden wollte, ob ich nun Karlsbad, Franzensbad oder Marienbad besuchen wollte, kam mir Goethe zu Hilfe. Die „Marienbader Elegie“ war mir noch als Gedicht und als Episode aus seinem Leben bekannt. Und so viel die Entscheidung doch recht schnell, unterstützt durch die einfache Erreichbarkeit von der Nürnberg-Prager Autobahn.
Die Oberpfalz, die man auf dem Weg nach Marienbad durchquert, ist beileibe nicht mehr so karg und arm, wie sie es vielleicht zu Zeiten des Komponisten Max Reger noch war. Gepflegte, kleine Ortschaften mit top modernen Gewerbegebieten sprechen beredt von dem dynamischen Wandel, den der ehemalige Agrarstaat Bayern erfahren hat.
Die nicht besetzten Grenzanlagen zur Tschechei sind für mich immer noch eines der Wunder der neueren europäischen Geschichte. Zu lebendig sind mir noch die fanatisch genauen und fast sadistischen anmutenden Grenzkontrollen des untergegangenen kommunistischen Regimes.
Dem Sudetenland hinter der Grenze merkt man dabei immer noch den Exodus der deutschen Bevölkerung an. Im Vergleich zu den restlichen Gebieten der Tschechei hinkt hier die Wirtschaft noch immer deutlich hinterher.
Dünn besiedelt, mit oft leicht verfallenen kleinen alten Bauernhäusern durchsetzt, erlebt man andererseits hier eine Ruhe und Romantik der Landschaft, die drüben in Bayern hinter der hocheffektiven Geschäftigkeit meist schon längst verloren gegangen ist.
Der Zauber einer Landstraße mit den zarten Birkenbäumen ist schwer in Worte einzufangen. Wie Girlanden lassen sich die äußeren Äste hin-und herwehen und verdoppeln noch Ihre Wirkung, wenn sie sich im Wasser der nahen Weiher reflektieren. Man ist schon ganz in der Erwartung zurückgezogenen Landlebens, da erhebt sich Marienbad wie eine Fata Morgana des 19. Jahrhunderts in dieser geruhsamen Idylle.
Eine Grandezza, die unvergleichlich ist und neben der die anderen berühmten Kurorte Europas fast verblassen, erhebt sich zwischen den großen Wäldern der Gegend in einem wildromantischen Tal. Die Architektur überwältigt in Ihrem Sinn für Proportion und Schönheit. Unfassbar, wie die ganzen Tragödien des 20. Jahrhunderts dieser Welt so wenig anhaben konnten. Marienbad ist auch heute noch ein Sinnbild für das Schönste in der europäischen Kultur.
So passt sich Goethes Marienbader Elegie in Ihrer heute fast grotesk wirkenden Altersverliebtheit, die sich dann aber zu unfassbarer Leidenschaft aufschwingt, wunderbar in dieses Kleinod zwischen den hohen Buchenwäldern Westböhmens ein.
Der ganze Ort wirkt vollkommen entrückt von dem Informationsüberfluss und den gedachten oder gefühlten Katastrophen des 21. Jahrhunderts. Und ist es dann doch überhaupt nicht: viele der aristokratischen Wohnungen stehen leer und die Einwohner wandern ab nach Prag oder zur Arbeit nach Deutschland.
Am Sonntag gibt es eine zweisprachige protestantische Messe, wobei der Priester auch als Organist fungiert. Eine wahre Allzweckwaffe des Herrn, der sogar die Lieder vom Blatt für die Gemeinde in die richtige Tonart setzt. Viele Lieder sind zwischen den Kulturkreisen Europas gewandert und zeigen wieder einmal, wie eng dieser Kontinent miteinander kulturell verwoben ist.
Die Botschaft der Predigt, die ermahnt, sich nicht zu sehr auf die Versuchungen der Gegenwart einzulassen, wirkt in diesem Rahmen authentisch und kündet von den langen Zeiträumen, in denen die Kirche denkt. Doch ebenfalls eine Wohltat ist das sorgfältige Deutsch des Pfarrers, der vielleicht ohne es zu wollen, die Aufmerksamkeit auf die Schönheit der Sprache lenkt.
Bei der Abfahrt am nächsten Morgen fühle ich erfrischt am Gemüt, ein Wort, das ich auch schon fast vergessen hatte. Es ist schwer zu wissen, was das größere Labsal war: die überall sprudelnden Mineralquellen oder das Gefühl, in der Heimat meiner eigenen Kultur angekommen zu sein.
Zum Abschluß noch ein paar Zeilen aus Goethes Marienbader Elegie:
In unsers Busens Reine wogt ein Streben,
Sich einem Höhern, Reinern, Unbekannten
Aus Dankbarkeit freiwillig hinzugeben,
Enträtselnd sich den ewig Ungenannten;
Wir heißen’s: fromm sein! – Solcher seligen Höhe
Fühl’ ich mich teilhaft, wenn ich vor ihr stehe.
Und hier der schönste Rahmen, dem man diesem Gedicht geben kann:
Stefan Zweigs „Sternstunden der Menschheit“:
https://de.wikipedia.org/wiki/Sternstunden_der_Menschheit
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